In der allgemeinen Form der Frage kann man auf jeden Fall sagen, dass ConTeXt für den produktiven Einsatz taugt. Bei ConTeXt MkII und bis vor wenigen Jahren bei ConTeXt MkIV war die Hauptkritik bezüglich des produktiven Einsatzes, dass sich Dinge oftmals von heute auf morgen geändert haben und alte Lösungen und Dokumente dann nicht mehr funktioniert haben. Herbert Voss – bekannt von vielen LaTeX-Büchern – hat auch einst auf einer DANTE-Tagung erwähnt, dass er beim Schreiben eines ConTeXt-Buches das Problem hatte, dass die Beispiele, die er am Anfang der Arbeit in das Buch eingefügt hat, einige Monate später beim Fortsetzen des Werks nicht mehr funktioniert haben.
Zum einen ist aber inzwischen sowohl ConTeXt als auch das parallel dazu entwickelte LuaTeX diesbezüglich deutlich stabiler. Zum anderen hat sich LaTeX bezüglich der Stabilität seit einiger Zeit zugunsten der Innovativität weiterentwickelt. Das betrifft nicht nur Pakete wie `biblatex`, bei denen mehrfach Kompatibilität aufgegeben wurde, sondern auch den LaTeX-Kern selbst. Letzteren kann man zwar zurückschalten, aber letztlich muss man für Langzeitstabilität ein Dokument entweder immer wieder anpassen oder die LaTeX-Installation in weiten Teilen konservieren.
Bezüglich der Stabilität ist ConTeXt also nicht schlechter (aber auch nicht besser) als LaTeX.
Dass ConTeXt bei PRAGMA ADE produktiv eingesetzt wird, kann als Kriterium herangezogen werden. Allerdings ist das auch etwas zweischneidig. Da ConTeXt dort genau dafür entwickelt wird, besteht natürlich auch immer das theoretische Risiko, dass es eben speziell für deren Anforderungen verändert wird und das im Einzelfall auch einmal nachteilig sein kann. Auf der anderen Seite ist Hans auch immer bemüht, Anforderungen aus der Community aufzugreifen und zu berücksichtigen. Bei (nach seiner Auffassung) guten Ideen kann das, selbst wenn es kompliziert erscheint, erstaunlich schnell gehen. Dank der Möglichkeit von Modulen ist man aber (entgegen anderslautender Gerüchte) auch nicht zwingend *Hans Gnade* ausgeliefert.
Bezüglich der in der Frage genannten anderen Punkte, also Pakete wir KOMA-Script, `hyperref`, `biblatex`, `caption` etc. ist zu sagen, dass ConTeXt sich hier grundlegend von LaTeX unterscheidet. Das beginnt schon damit, dass in ConTeXt grundlegende typografische Elemente wie Überschriften nicht erst durch Zusätze (bei LaTeX die Klassen) hinzugefügt werden müssten. Sie sind Teil des Formats und ihre Konfigurierbarkeit ist ebenfalls Teil des Formats. *Moderne Zugaben* wie Hyperlinks sind dabei selbstverständlich direkt verfügbar.
Für das Literaturverzeichnis wird weder BibTeX noch `biber` benötigt. Da ConTeXt aus mehr als nur TeX-Makros besteht, gehört dergleichen zu ConTeXt dazu. Trotzdem kann es mit den altbewährten `bib`-Dateien umgehen (allerdings muss man ggf. darin verwendete TeX-Makros erst noch definieren). Es kann aber auch direkt mit Lua-Tabellen oder XML-Dateien für diesen Zweck arbeiten.
Bezüglich TikZ stellt sich das etwas anders dar. TikZ ist auch mit ConTeXt (als Modul) einsetzbar, was übrigens in der Anleitung zu TikZ/`pgf` explizit behandelt wird, auch wenn die Beispiele dann überwiegend LaTeX-Syntax verwenden.
Im Bereich der Literaturverzeichnisse scheint mir dennoch LaTeX die Nase mehr als nur ein klein wenig vorn zu haben, was hauptsächlich daran liegt, dass hier aufgrund des größeren Anwenderkreises die seltsamsten Anforderungen irgendwo meist ganz ähnlich schon einmal umgesetzt wurden – man muss die Lösung nur finden. Das gilt auch in anderen Bereichen. Umgekehrt muss man bei ConTeXt meist gar nicht lange suchen. Entweder kann ConTeXt etwas und man findet Lösungen sehr schnell im Umfeld von ConTeXt garden. Oder es geht eben nicht und muss eine Frage dazu stellen. Und natürlich hat ConTeXt die Nase beim Bedienkonzept vorn. Da es nicht den Wildwuchs an Paketen gibt (und man nicht für jede Kleinigkeit ein Modul benötigt), gibt es auch nicht den Wildwuchs gänzlich unterschiedlicher Benutzerschnittstellen.
Zum Schluss der obligatorische Hinweis: Obiges ist eine Ansammlung von Halbwissen, wie es sich mir als Außenstehendem präsentiert, der sich immer mal wieder bei ConTeXt umsieht und dann doch beschließt den Schritt aus dem altgewohnten Trott nicht zu gehen. Vor allem, wenn Henri mal wieder eine ConTeXt-Lösung für eine (eigentlich) LaTeX-Frage präsentiert, dann sticht mich desöfteren der Hafer ob der klaren Syntax. Auf der anderen Seite bietet l3 eine vergleichbar klare Syntax, jedoch nicht auf Anwender sondern auf Programmiererebene. Und ich selbst bin eben inzwischen sehr viel mehr Programmierer als Anwender. Sollte irgendwann die Umsetzung vereinheitlichter, neuer Paradigmen auf Anwenderebene bei LaTeX Einzug halten, wird man sehen, was das für Auswirkungen auf die Vielzahl der Klassen und Pakete hat, die derzeit in einem Wildwuchs unterschiedlicher Konzepte existieren.